Wer war Philipp Müller?

Sie befinden sich auf dem Karl-Marx-Platz in Herzberg. Blickrichtung Philipp-Müller-Straße. Rechts die Rundschau. Ein Volkskorrespondent stürtzt gerade in die Redaktion. Bei Gemüse-Krause müssen alle anstehen. Es gibt Apfelsinen oder Bananen. Ein kleiner Knirps, mit Wiener bewaffnet, sitzt stolz wie Oskar auf dem Arm seiner Mutti. Die hält gerade mit anderen Kunden von Grieschats ein Schwätzchen. Ein gut gekleideter Herr verlässt mit drei roten Nelken Mitschurins Blumenladen. Er zwinkert dem Kleinen zu und läuft zum Rathaus. Alltag vor fünfundzwanzig Jahren in der Philipp-Müller-Straße im Herzen der Stadt.
Natürlich können sich viele noch daran erinnern, dass unsere Mönchstraße einst Philipp-Müller-Straße hieß. Philipp Müller, ja, Namenspatron dieser kleinen pulsierenden Geschäftsstraße. Wie, den kennen Sie nicht? Müller klingt doch irgendwie vertraut. Aber ganz ehrlich – Philipp Müller?
Nun, trotz polytechnischem Geschichtsunterricht, sozialistischer Erziehung und heimatkundlichem Spürsinn ist er auch mir unbekannt. Und das, obwohl ich die Lebensstationen unzähliger Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung und etlicher Sowjetmenschen noch immer herunterbeten kann. Da gab es Hunderte. Zum Beispiel die Künstlerin Käthe Kollwitz. So hieß mein Kindergarten in der Uferstraße. Mit einsetzender Schulpflicht wurde ich in die Obhut des Spanienkämpfers Beimler übergeben, zumindest in die Oberschule, die seinen Namen trug. Ich wurde Mitglied der Pionierorganisation Ernst Thälmann. Den Sportunterricht hatten wir in den Werner-Seelenbinder-Sportstätten. Und es gab noch mehr Ehrennamen. Bei unseren Spartakiaden trafen wir auf die Schüler der Juri-Gagarin- und der Friedrich-Engels-Oberschule. Die Kinder der Hilfsschule A. S. Makarenko, sowjetischer Pädagoge, waren meiner Meinung nach nicht dabei. In meinem letzten Schuljahr zogen wir dann in die leer stehende Erweiterte Oberschule Erich Weinert in die Lugstraße. Durch den Neubau der Schule in Nord hatte in Herzberg gerade ein lustiger „Schulgebäudetausch“ begonnen. Von hier also, gegenüber des Wasserturms und des Wilhelm-Pieck-Rings, hatte ich es nicht weit zum Astronomieunterricht im Planetarium Alexej Leonow. Auf dem Nachhauseweg von unserer Schulküche beobachteten wir hin und wieder Beerdigungen von Mitgliedern der Kampfgruppenhundertschaft Richard König. Mit Salutschüssen über dem offenen Grab. Ist inzwischen aus der Mode gekommen. Genauso wie die Maiumzüge. Treffpunkt war die Polizeikaufhalle. Dann Abmarsch zum Karl-Marx-Platz. Wer Glück hatte, bekam im Geschäft der Gräfendorfer Gärtnerei Mitschurin sogar eine echte Mainelke zu kaufen. Ich wurde älter. Bibliotheksbesuche in der Ernst-Thälmann-Straße wurden seltener, dafür begann ich mich für die Schülerinnen der Kommunalen Berufsschule Heinrich Rau zu interessieren. Neue Aufgaben winkten. Der UTP-Unterricht war nun im Armaturenwerk. In den Pausen standen wir vor den Wandzeitungen der Jugendbrigade Karl Marx und der Brigade Roter Oktober. Ergänzend zu dieser praktischen Tätigkeit wurde Unterricht zur Einführung in die sozialistische Produktion erteilt. Hierzu fuhren wir vom Stadtbahnhof in der Straße der Freundschaft aus nach Falkenberg. Die dortigen Spezialkabinette wurden im Übrigen auch von der Betriebsberufsschule Philipp Müller genutzt, und da war war er wieder: der große Unbekannte.
Heimatgeschichtliche Details aus 40 Jahren DDR zu beleuchten, erscheint teilweise schwieriger, als manchen spätmittelalterlichen Lebensweg nachzuzeichnen. Eine Straße trug rund 40 Jahre lang Philipp Müllers Namen und fast niemand weiß, wer er war. Irgendwie schade. Philipp Müller wurde am 5. April 1931 bei München geboren und war nach dem Zweiten Weltkrieg Mitglied in der FDJ und KPD. Bei einer Demonstration gegen die westdeutsche Wiederaufrüstung wurde er am 11. Mai 1952 in Essen von der Polizei erschossen. Daraufhin kam es in der Bundesrepublik zu Massendemonstrationen und in der DDR zu Protestaktionen. Die FDJ unter Leitung von Erich Honecker hatte schon bald Philipp Müller als sozialistisches Vorbild für ihren Personenkult auserwählt. So wurde 1954 eine Philipp-Müller-Medaille gestiftet und zahlreiche Straßen und Einrichtungen in der DDR erhielten seinen Namen. In Herzberg wurde vor 1954 die Mönchstraße entsprechend umbenannt. Das genaue Datum fehlt. Mit dem Stadtverordnetenbeschluss vom 27. November 1991 erfolgte die Rückbenennung zum ursprünglichen Straßennamen.
Die Episode um Philipp Müller lässt erahnen, dass die Heimatgeschichte nach 1945 noch reichlich Stoff für neue Forschungsunternehmungen bereit hält.
Ulf Lehmann